Tom ist ein klitzekleiner Wassertropfen. Richtig winzig im Vergleich zu der riesigen, schwarzen Wolke, in der er mit tausenden seiner Geschwister hin- und hergewirbelt wird. Alle sind heftig in Bewegung. Hier ein Rempler, da ein Schubs. In der Wolke herrscht ein wildes Gedränge. Jeder stößt mit Jedem zusammen. Alles ist in chaotischer Bewegung. Manche seiner Brüder und Schwestern sind zu scharfkantigen Eiskristallen gefroren. Zusammenstöße mit ihnen tun richtig weh. Ganz schlimm sind die Kollisionen mit denen, die sich zu faustdicken Hagelkörnern zusammengeballt haben. Tom wird in der großen, schweren Wolke hin- und hergeschleudert. An manchen Stellen ist es stockdunkel, wie in einer mondlosen, finsteren Nacht. Dann ist es in der Wolke, wie in fast durchsichtigem, weißem Nebel. Grelle Blitze durchzucken wild die Wolke. Einige dieser gleißend hellen Blitze verlassen die Wolke Richtung Erde und schlagen laut krachend in den Boden ein.
Die Menschen auf der Erde sind alle in Deckung gegangen
Auch die Tiere haben sich tief in den Wald und in ihre Höhlen zurück gezogen. Es herrscht gespenstische Stille, nur unterbrochen durch die lauten Donnerschläge, die den grellen Blitzen nachfolgen. Die Atmosphäre ist bis zum Zerplatzen gespannt. Die Wolke wird von dem stürmischen Wind immer weiter gejagt, schneller und immer schneller, bis sich ihr ein hoch aufragender Bergrücken in den Weg stellt. Sie ist viel zu schwer, um weiter in den Himmel hinauf zu steigen. Sie hängt am steilen Berghang fest. Um weiter ziehen zu können, muss sie Ballast abwerfen. Tom wird immer noch wild umhergeschubst. Mal ist es so kalt, dass er zu einem kleinen Eiskristall gefriert, fast einer Schneeflocke im Winter gleich. Danach wird ihm plötzlich wieder ganz warm und er nimmt sogleich die Form eines kleinen Tropfens an. Jetzt fängt er an zu taumeln. Es geht abwärts. Er fällt in die Tiefe.
Als er den Rand der Wolke erreicht hat, stürtzt er aus der Wolke heraus. Auf ein Mal ist er ganz alleine. Er vermisst das Getöse und Geschubse. So ganz auf sich alleine gestellt, fällt und torkelt er ins Bodenlose. Er überschlägt sich. Ihm ist ganz schwindlig. Wo ist oben und unten? Tom hat total die Orientierung verloren. Auf dem Weg zur Erde sieht er ab und zu eines seiner Geschwister. Er will sie rufen, aber keiner scheint Notiz von ihm zu nehmen. Alle sind zu beschäftigt auf ihrem eigenen Weg. Manche haben sich zu größeren Tropfen versammelt und stürzen nun schneller an ihm vorbei. Andere scheinen wieder auf dem Weg nach oben zu sein, getragen von den Aufwinden des Sturms. Tom fällt langsam aber stetig dem Boden entgegen.Tausende Meter hat er nun schon hinter sich gebracht, als er jäh abgebremst wird. Er ist auf dem herzförmigen Blatt einer Linde gestrandet. Tom hat so viel Energie, dass er wie auf einem Trampolin auf und ab springt. Das macht ihm so richtig Spaß. Langsam verlieren seine Sprünge an Höhe und schließlich liegt er wie eine kleine, durchsichtige Perle auf dem weichen, grünen Lindenblatt. Um ihn herum wütet das schwere Gewitter noch immer. Der starke Sturm zerrt an dem imposanten, alleine stehenden Baum, der auf einer kleinen Anhöhe am Wegesrand steht. Der Wind heult auf und immer wieder schlagen die Blitze in ihrer Nähe in den Boden ein, so dass der Baum mitsamt seinem Blatt heftig durchgeschüttelt wird.
Der kleine Wassertropfen fällt nun von Blatt zu Blatt
Einige seiner Brüder, die sich zu taubeneigroßen Hagelkörnern zusammengerottet haben, stürzen auf die Linde zu. Ihre weichen Blätter können der Wucht des Aufpralls nichts entgegensetzen. Durch den Aufschlag zerfetzt hängen sie nun traurig am Baum herunter. Tom schaut sich um. Auch sein Blatt wackelt bedenklich im Wind. Er beginnt zu rollen. Am Blattrand versucht er sich verzweifelt fest zu krallen. Aber das Gesetz der Schwerkraft zieht ihn in Richtung Erde. So fällt er nun von Blatt zu Blatt und tropft schließlich ganz von der Linde auf den Boden. Hier landet er auf dem Kopf eines Lebermooses. Das ist sehr durstig und ver sucht ihn festzuhalten. Doch Tom gelangt letztendlich bis auf den Boden. Hier rollt er sich zusammen, um sich auszuruhen. Ist er jetzt angekommen? Unten ist er ja nun. Was wird ihn hier erwarten? Währenddessen tobt und tost das Gewitter mit voller Kraft weiter. Vorsichtig kriecht Tom zwischen dem vermoderendem Laub vom letzten Herbst und kleinen, bunten Käfern und die Dunkelheit liebenden Asseln hindurch. Vorbei an kleinen Steinchen und winzigen Sandkörnern bahnt er sich seinen Weg. Endlich erreicht er den gewundenen Gang eines Regenwurms. Hier kommt er nun viel Schneller vorwärts. Er folgt ihm nach unten, immer tiefer hinein in die braune, feuchte Erde. Es wird wärmer und dunkler. Von dem tobenden Sturm ist hier in der Tiefe nicht mehr zuhören. Tom zwängt sich durch eine enge Felsspalte und erspäht ein schmales unterirdisches Rinnsal vor sich. Im schließt er sich vertrauensvoll an. Jetzt ist er nicht so alleine. Er trifft sogar einige seiner Geschwister aus der großen, schweren Wolke wieder. Die Reise geht abwärts durch dunkle Höhlen und Spalten. Auf ein Mal lässt die Dunkelheit nach.
Tom hört helle Kinderstimmen. Plötzlich wird er hin und hergeschleudert und die Fahrt wird schnell rasanter. Kopfüber findet er sich in einer von schwarzen Basaltblöcken eingefassten Quelle wieder. Es ist gleißend hell. Er muss blinzeln. Durch die lichten Baumkronen kann er das strahlende Licht der Sonne sehen. Der Himmel über ihm ist tiefblau und wolkenlos. Und schon zieht es tom weiter. Mit andernen abertausenden anderen Wassertropfen vereint, bildet er balb einen kleinen Bach. Vorbei geht es an dunkelgrünen, saftigen Weiden auf denen friedlich Kühe und Pferde weiden. Der Wasserlauf wird immer breiter und vereinigt sich auf seinem Weg mit etlichen Flüssen, bis aus ihm ein breiter, träge dahinfließender Strom geworden ist. Er strebt dem weiten Meer entgegen. Tom fühlt sich geborgen unter seinen Brüdern und Schwestern. Alle kuscheln sich friedlich aneinander auf dem letzten Stück der langen Reise. Tom kann das salzige Wasser des Meeres schon riechen. Und bald schmeckt er es auch. Es fühlt sich seltsam an, als wolle es Tom kitzeln. Er muss laut lachen. Lauter und lauter wird er, bis er vor Freude gluckst. Das ist also das große Meer, von dem ihm sein Vater früher erzäht hat. Er sieht die Delfine, wie sie die Boote der Menschen ein Stück begleiten. Tom mag die schlauen Delfine sehr gern. Mit Leichtigkeit durchstreifen sie die Meere. Mal unter, mal über Wasser flitzen sie durch die Fluten. Sie spielen ganz vertraut miteinander. Ein Delfin will auch mit Tom spielen. Er schubst ihn mit seiner Nase vor sich her. Mal geht es hoch, mal runter, mal nach rechts, mal nach links. Das macht Spaß. Er sieht kleine Krabben, die seltsam seitwärts über den Meeresboden bewegen.
Vielerlei Getier ist hier zu finden. Tintenfisch und Haie, und winzige Krebse, Wasserflöhe genannt, die kaum größer sind als Tom selbst. Hier ist richtig viel los. Tom denkt, „Hier will ich bleiben!“ Da erfasst ihn auch schon ein Sonnenstrahl und zerrt an ihm. Tom versucht sich an seine Geschwister zu klammern. Aber es hilft nichts. Der helle, warme Strahl erfasst ihn und hebt Tom gen Himmel. Immer höher und höher steigt er hinauf. Es wird kälter. Tom und seine Geschwister, die auch alle von der wärmenden Sonne hochgezogen werden rücken näher zusammen. Es kommt ihm so vor, als ob dies schon unzählige Male erlebt hätte. Immer dichter wird das Gedränge in der großen, dunklen Wolke, in der es heftig blitzte und donnerte. Und schon fällt Tom wieder aus der dicken Wolke heraus der Erde entgegen. Und so beginnt eine neue spannende Geschichte.